Mein Versprechen - Sein Leben

Mein Versprechen [Leseprobe]

"Hey Wölfchen."
Frühsommer 2013.
Wir saßen auf unserer Terrasse unter der Laube, die wie eine Art kleiner Wintergarten Jahre zuvor, als wir in das Haus in Lenggries eingezogen waren, gebaut wurde. Es war warm, die Sonne schien, kam aber nur gebrochen durch die Weinreben, die sich über uns auf der Unterseite des durchsichtigen Laubendaches entlangschlängelten. Sie rankten sich über das Dach zur Hauswand, um die Ecke unter den Balkon meines Zimmers und sprossen dort aus drei Betontöpfen, in die mein Vater die Weinstöcke gepflanzt und mit großer Liebe gehegt und gepflegt hatte.
Ich sah ihn an und lächelte.
"Ja?"
Er hatte mich immer so genannt.
Wölfchen, weil ich diese Tiere mochte, seid ich klein war. Oder Löwenmähne wegen des Lockenkopfs, den von meinen Geschwistern nur ich aus der Blutlinie meines Vaters geerbt hatte, auch wenn er selbst keine hatte. Oder Schaf, weil das allgemein mein Spitzname in der Familie war. Aus irgendeinem Grund erfüllten sie mich jedoch mit Stolz, wenn mein Vater mich so nannte.
Er saß auf dem grünen Gartenstuhl neben mir, an einem langen Holztisch mit bunter Plastikdecke, und zog an seiner E-Zigarette. Er war noch nicht lange darauf umgestiegen, gerade ein Jahr, nachdem er Jahrzehnte eine Marlboro Schachtel nach der anderen in sich aufgesogen hatte. Ich sehe sein rundes, gut gebräuntes und mit schwachem Rotstich versetztes Gesicht noch immer vor mir. Sein markanter, brauner Schnauzer unter der leicht knobligen Nase und der runden Brille vor einem kleinen, aber liebevollen Paar grüner Augen, die weder ich noch meine zwei Schwestern oder mein Bruder von ihm bekommen hatten. Er trug ein grob kariertes Hemd auf einer hellen Jeans, wie es üblich für ihn war, wenn er nicht gerade seine dunkelgrüne Tierarztweste, einen stylischen Geburtskittel oder sein blaues OP-Shirt trug. Oder auch mal nur in Unterwäsche durchs Haus lief.

"Kannst du mir Etwas schreiben?"
Ich war erstaunt als er mich das fragte und antwortete nur etwas verblüfft, aber froh, dass er mich um einen Gefallen bat: "Ja, sicher. Was soll ich denn Schreiben?"
"Kannst du mein Leben aufschreiben?"
Im ersten Moment war ich sprachlos. Er hatte sich etwas zu mir vorgelehnt und sah gedankenverloren an mir vorbei.
"Dein Leben?"
"Ja, eine Biografie über das, was ich erlebt habe, wie ich aufgewachsen bin."
Das Gefühl, das ich dabei hatte, war unbeschreiblich schön. Es war spannend, aufregend und ich freute mich darauf, etwas über ihn zu erfahren.
"Ja, kann ich machen", lächelte ich. "Aber dazu muss ich etwas über dich wissen."
Er nickte. "Ja, ich kann dir erzählen, was so passiert ist."
Nun nickte ich und strahlte. "Ja, gern. Vielleicht auch auf ein Tonband, dann hab ich es immer. Was kannst du mir denn erzählen?"
Er lehnte sich zurück, zog an seiner E-Zigarette und überlegte. Als er den nach Vanille duftenden Dunst aushauchte, begann er:
"Wusstest du, dass ich schon beinahe gestorben wäre als ich gerade ein paar Tage alt war?"
"Nein. Ehrlich?"
"Ja. Das war so: Ich wurde ja zu Hause geboren und lag da, in unserem Haus, in der Wiege. Und einige Zigeuner aus der Gegend haben Steine durch das Fenster geworfen. Ein so großer Stein ...", er formte mit seinen massiven Händen einen Brocken, der so breit wie mein eigenes Gesicht war, "... ist nur wenige Zentimeter neben meinem Kopf gelandet. Mein Vater war wütend und ist auf das Vordach geklettert, dort entlang gelaufen und hat die Zigeuner angeschrien und sie verjagt: 'Verschwindet, ihr verlausten Köpfe und lasst meinen Sohn in Ruhe!'"
Es war eines der wenigen positiven Ereignisse, die ich über seinen Vater gehört habe, aber ich war froh, dass er so reagiert hatte, und zeigte mein Erstaunen und meine Freude. Das Lächeln meines Vaters steckte an.

"Schreibst du mir das?"
Ich gab ihm das Versprechen.
Ihm und mir selbst.
 
Wir haben seit diesem Tag nicht mehr darüber gesprochen.
 
Am 1. Februar 2014 starb mein Vater.

Dr. Hans-Artur Binder, Tierarzt, gutmütiger Freund, vertrauensvoller Bruder, liebevoller Ehemann, geduldiger Vater.
Dieses Buch mit all den Erinnerungen an dich, von mir, meiner Mutter, meinen Geschwistern, deiner Familie, deinen Freunden und allen, die dich kannten, widme ich dir. Ich danke dir für zahllose schlechte Witze, deinen derben Humor und dass wir viel Lachen konnten, auch wenn deine Krankheit uns schwere Zeiten und Sorgen bereitet hat.